Universitätssiegel
Projekt
Laufzeit: 01.04.1998 - 30.06.2000
Finanzierung: DFG
 
Antragsteller
 
Mitarbeitende
 

Forschungsprojekt

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Der Wiederaufbau von Beirut/Libanon - Planungskonzepte, Akteure und Akzeptanz in der Bevölkerung

Zusammenfassung

Das Thema des Forschungsprojekts „Der Wiederaufbau von Beirut/Libanon“ war eine theoriegeleitete Rekonstruktion der Wiederaufbauplanung von Beirut nach dem Bürgerkrieg, insbesondere eine Konfliktanalyse der beteiligten Akteure und ihrer Handlungsstrategien. Alle formulierten Forschungsziele konnten im Rahmen einer Reihe von Erhebungen in insgesamt vier Geländekampagnen erreicht werden. Für die empirischen Erhebungen wurde eine fragestellungsangepasste Methodenkombination qualitativer und quantitativer Verfahren herangezogen. Zu nennen sind neben Luftbildinterpretation, Literaturrecherche und Medienanalyse vor allem insgesamt 55 in mehreren Befragungsrunden durchgeführte qualitative Leitfrageninterviews mit Vertretern aller am Wiederaufbau beteiligter Akteursgruppen sowie eine quantitative Bevölkerungsbefragung mit 400 Personen in Beirut.

Im Beiruter Stadtzentrum fanden nach dem Ende des Bürgerkriegs umfangreiche Abbruchmaßnahmen statt, die auf der Grundlage einer weitgehenden Neuplanung und Umgestaltung des Stadtzentrums durchgeführt wurden. Teilweise noch ohne gesetzliche Grundlage wurde weitaus mehr Bausubstanz abgerissen als während des Krieges zerstört worden war; nur rund 25 bis 30 Prozent wurden zum Erhalt vorgesehen. Eine derartige tabula-rasa-Konzeption musste natürlich auf Kritik in der Öffentlichkeit stoßen und es entzündete sich eine heftige Kontroverse zwischen Befürwortern und Gegnern dieser Form des Wiederaufbaus.

Die Analyse des Konflikts wurde über eine theoriegeleitete Re-Interpretation der qualitativen Akteursinterviews auf verschiedenen Analyseebenen vorgenommen. Die Aussagen wurden auf einer handlungstheoretischen Ebene entsprechend der Konzeption von GIDDENS (1997) und WERLEN (1995 und 1997) auf Zielvorstellungen und Motive, zugrundeliegende Ressourcen und Potentiale sowie auf verschiedene Handlungsstrategien hin analysiert. Auf der Ebene der Entscheidungsfindung wurde die Wirksamkeit der eingesetzten Akteursstrategien, aber auch für Erfolg bzw. Misserfolg ausschlaggebende Faktoren und Gründe untersucht. In einem reflexiven Verfahren wurden schließlich die von den unterschiedlichen Akteuren eingesetzten strategischen Argumentationsmuster erfasst. Im Zuge dieser konstruktivistischen Erweiterung wurde das Verfahren eines permanenten Perspektivenwechsels (DERRIDA) als reflexiv-systematisches hermeneutisches Vorgehen für die Dekonstruktion der verschiedenen von den Akteuren instrumentalisierten strategischen Wahrheiten herangezogen.

Die Ergebnisse ließen zunächst eine Rekonstruktion der verschiedenen Akteurspositionen sowie der eingesetzten Handlungsstrategien zu. Als wirkungsmächtiger Initiator des Wiederaufbauprojekts im Beiruter Stadtzentrum trat mit Hariri ein milliardenschwerer Bauunternehmer und zeitweiliger Ministerpräsident in Erscheinung, der im Zuge des Konflikts die meisten staatlichen Schlüsselpositionen besetzen und damit weitgehend seine Vorstellungen eines modernen Wiederaufbaus einbringen konnte. Als Gegenpart zu Hariri organisierten sich eine Reihe oppositioneller Akteure: verschiedene Bürgerinitiativen der enteigneten Mieter und Eigentümer, eine Denkmalschutzorganisation, ein loser Zusammenschluss von 15 Wissenschaftlern und Planern, einzelne oppositionelle Politiker sowie Künstler und Intellektuelle. Aktiv beteiligt waren darüber hinaus alle im Stadtzentrum vertretenen religiösen Stiftungen und Institutionen sowie als Vertretung der Bürgerkriegsflüchtlinge die schiitischen Parteien Hisballah und Amal.

Konflikte zwischen Hariri und den Oppositionsgruppen entzündeten sich im wesentlichen an den Handlungsfeldern „Enteignung der ehemaligen Eigentümer und Mieter des Stadtzentrums“, „Umgang mit dem religiösen Stiftungsbesitz“, „Lösung des Flüchtlingsproblems“ und „Moderation der Konflikte mit den Kritikern aus der libanesischen Zivilgesellschaft“. In allen Fällen wie auch in der medialen Auseinandersetzung erwies sich Hariri als geschickter Stratege und überlegener Taktiker, der seine Ressourcen und Machtpotentiale zur Lösung des Konflikts in seinem Sinne einzusetzen verstand. Die oppositionellen Akteure konnten sich nur mühsam gegen die Wiederaufbaubemühungen Hariris behaupten. Die günstigste Ausgangsposition besaßen die im Stadtzentrum untergekommenen Bürgerkriegsflüchtlinge, aber auch die verschiedenen religiösen Stiftungen im Stadtzentrum – beide konnten eine umfassende Neugestaltung des Stadtzentrum blockieren und wurden im Ergebnis durchweg in ihren Interessen finanziell abgegolten oder über eine Integration in das Wiederaufbauprojekt zufriedengestellt. Die enteigneten Eigentümer und Mieter, aber auch die oppositionelle Gruppe der Wissenschaftler und Planer konnten dagegen trotz ihrer Aktivitäten gegen das Projekt weitgehend übergangen werden.

Aus Sicht der Bevölkerung wurde das Wiederaufbauprojekt – überraschenderweise über die Konfessionsgrenzen hinweg – außerordentlich positiv bewertet. Und auch wenn in einzelnen Punkten wie der Enteignung der Mieter und Eigentümer Kritik geübt wurde, war die Beiruter Öffentlichkeit nach 16 Jahren Bürgerkrieg für die euphorische Inszenierung eines modernen Wiederaufbaus durchaus anfällig. Hinzu kam die weitgehende Fragmentierung und Konzeptlosigkeit der Oppositionsgruppen, so dass Hariri mit dem überwiegenden Zuspruch der Bevölkerung im Rücken letztlich alle wiederaufbaurelevanten Entscheidungen monopolisieren und seine Ideen auch gegen den Widerstand der oppositionellen Akteursgruppen durchsetzen konnte.

Von den Ergebnissen des Forschungsprojekts wird sich auf anderweitige Konfliktsituationen vor allem das methodische Konzept einer handlungsorientierten akteursbezogenen Konfliktforschung übertragen lassen. Eine theoriegeleitete Rekonstruktion von Konflikthandeln wie im vorliegenden Falle würde auch für andere Nachkriegsgesellschaften z.B. im ehemaligen Jugoslawien (Mostar, Sarajewo) aufschlussreiche Ergebnisse erbringen können. Generell ist dabei die im Forschungsprojekt praktizierte Methode einer Dekonstruktion der von den Akteuren eingesetzten strategischen Wahrheiten, Wirklichkeitsentwürfe und geographischen Imaginationen ein geeigneter Ansatzpunkt, Mechanismen strategischer Konstruktionen zu enttarnen bzw. für die Konfliktmoderation zu nutzen.

Seitenbearbeiter: Webmaster-Team
Letzte Änderung: 26.08.2015
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