Forschungsprojekt
Der Diskurs um die postmigrantische Gesellschaft – Erkenntnisse und Perspektiven für stadträumliche Integrationspolitiken
Im September 2020 konnten Simon Runkel und Diana Griesinger das Projekt „Der Diskurs um die postmigrantische Gesellschaft – Erkenntnisse und Perspektiven für stadträumliche Integrationspoli-tiken“, das in Kooperation mit dem Bundesverband für Stadtentwicklung und Wohnen (vhw) durchgeführt wurde, erfolgreich abschließen. In dem Projekt ging es um die Idee der postmigranti-schen Gesellschaft, die als Reaktion auf die fehlende Repräsentation der Vielfalt der Gesellschaft in Entscheidungspositionen sowie strukturelle Ausgrenzungen und Rassismen im Einwanderungsland Deutschland in einer Debatte aus Kunst, Kultur und Wissenschaft verhandelt wird. Postmigranti-sche Diskurse stellen das tradierte Verständnis von Integration in Frage, in dem sie durchaus kritisch ein neues und breitangelegtes Gesellschaftsverständnis einfordern, das auf die Frage „Wer gehört dazu?“ mit „Alle, die da sind“ antwortet. Darüber hinaus verlangen postmigrantische Autor*innen die historische und aktuelle Sichtbarmachung der Normalität von Migration, insbesondere in Städ-ten als globalen Knotenpunkten der Mobilität.
Ziel der Studie war es, aufzuzeigen, welche Fragen zukünftig zu bearbeiten sind, wenn postmigran-tische Perspektiven in der kommunalen Integrationspolitik und Stadtentwicklung ernst genommen werden, und wo Anknüpfungspunkte und Handlungsbedarfe für deren realistische Umsetzung lie-gen. Dazu wurden basierend auf einer systematischen Auswertung der Literatur zur postmigranti-schen Gesellschaft zwölf migrations- und integrationspolitische Expert*innen aus den Bereichen städtische Verwaltung, Zivilgesellschaft und Wissenschaft interviewt. Die Ergebnisse der Interviews sowie die Anregungen aus der Literatur um eine postmigrantische Gesellschaft wurden schließlich während eines Workshops mit diesen Expert*innen in der Bundesgeschäftsstelle des vhw in Berlin diskutiert.
Es zeichnete sich ab, dass Diskurse um eine postmigrantische Gesellschaft eine Vielzahl inhaltlicher Impulse für aktuelle Debatten um Migration und Integration im Einwanderungsland Deutschland bereithalten. Insbesondere für die kommunale Integrationspolitik sowie die Stadt- und Quartierspla-nung mit ihrem Fokus auf die Orte des täglichen Zusammenlebens und Alltagspraktiken bieten postmigrantische Diskurse zahlreiche Anknüpfungspunkte. Die postmigrantische Kritik gängiger Verständnisse von Integration und Migration tritt dabei für eine Neuaushandlung gesellschaftlicher Selbstverständnisse in einem pluralen Einwanderungsland ein. Sie sieht Integration schließlich als intersektional zu verstehende Aufgabe aller Teile der Gesellschaft, die sich nicht nur an Mig-rant*innen richtet. Neben einer postmigrantischen Öffnung öffentlicher Institutionen stehen dabei insbesondere die Neuformulierung von Zielgruppen integrationspolitischer Maßnahmen, die Kritik an Ausgrenzungen und eine postmigrantische Stadt- und Quartiersplanung im Vordergrund, die dem kosmopolitischen und vielfältigen Charakter von Städten in positiver Weise Rechnung tragen kann. Ein ausführlicher Bericht über das Projekt wird zeitnah in der Schriftenreihe des vhw veröf-fentlicht.
Abb. 1: Postmigrantische Perspektiven auf Stadt (Graphic Recording des Vortrags von Erol YILDIZ am 22.03.2019 beim Projektworkshop) (vhw/Geographisches Institut 2019).
März 2019
Am 22. März 2019 veranstaltete der vhw gemeinsam mit dem Geographischen Institut der Universität Heidelberg einen Workshop im Rahmen des Forschungsprojektes „Der Diskurs um die postmigrantische Gesellschaft – Erkenntnisse und Perspektiven für stadträumliche Integrationspolitiken“. In der vhw-Bundesgeschäftsstelle in Berlin kamen Expertinnen und Experten aus den Bereichen städtische Verwaltung, Zivilgesellschaft und Forschung zusammen, um sich über Impulse postmigrantischen Denkens und Handelns für die Zukunft von Städten auszutauschen.
Den Auftakt machte Prof. Dr. Erol Yildiz (Universität Innsbruck und Kuratorium des vhw) mit seinem Vortrag zu postmigrantischen Perspektiven auf Stadt, in dem er unter anderem verdeutlichte, dass Migration und Vielheit die alltägliche (stadt-)gesellschaftliche Normalität sind und für eine non-dualistische Sichtweise auf „die Menschen, die da sind“ argumentierte. Prof. Dr. Riem Spielhaus (Universität Göttingen) warb für das Irritationspotential des postmigrantischen Begriffes, der die Kritik ungleicher Repräsentation und das Aufbrechen bestehender Machtstrukturen ermögliche. Darauf aufbauend wurden in Fokusgruppen Ideen postmigrantischer Diskurse wie etwa „Die Geschichte und Gegenwart von Migration sind die Geschichte und Gegenwart aller, die in der Stadt leben“ und „Migration prägt den gesamten städtischen Sozialraum und migrationsgeprägte Quartiere gehören zum Selbstverständnis einer postmigrantischen Stadt“ von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern ausführlich auf ihre Relevanz und Umsetzbarkeit in Städten und Kommunen hin reflektiert.
In einer abschließenden Plenumsrunde ging es darum, zu diskutieren, welche Zukunft postmigrantische Impulse in Städten haben können und welcher Impulse und Veränderungen es bedarf, um Migration, Gesellschaft und Stadt neu zu denken. Dabei begrüßten einige die durch den Begriff „postmigrantisch“ hervorgerufene Irritation, die angesichts der fehlenden Repräsentation der Vielfalt der Gesellschaft in entscheidenden Machtpositionen dazu anrege, marginalisierende und rassistische Machtstrukturen sichtbar zu machen und zu destabilisieren. Kontrovers hinterfragt wurden auch vielgenutzte Differenzmarker wie „migrantisch“ und „nicht-migrantisch“, die zwar oft für zielgruppenspezifische Angebote verwendet werden – aus postmigrantischer Sicht aber als geradezu obsessives Festhalten an der Kategorie „Migration“ zu werten seien, das in Anbetracht der Normalität von Migrationserfahrungen für die Mehrheit der städtischen Biographien wenig Sinn mache. Als vielversprechende Alternative zur dualistischen Adressierung von Menschen in Städten wurden insbesondere sozialräumliche planerische Perspektiven wie zum Beispiel die Quartiersebene angeführt. Darüber hinaus wurde immer wieder die Notwendigkeit einer neuen Art des Kommunizierens betont, die nicht nur Mehrsprachigkeit auf allen Ebenen von Stadt fördert und umsetzt, sondern auch eine sensible, nicht-exkludierende Sprache für Themen rund um Migration starkmacht.
Die inhaltlichen Impulse aus dem Workshop sollen im Sinne eines intensiveren Austauschs zwischen Wissenschaft und Praxis nun dazu dienen, Netzwerke und Forschung für einen weiteren inhaltlichen Austausch rund um postmigrantische Perspektiven auf Stadt anzuregen. Um dieses Ziel zu erreichen, werden die aus dem Workshop entstandenen Ideen aktuell in einem Projektabschlussbericht verarbeitet, der Sommer 2019 in der Schriftenreihe des vhw erscheinen wird.